Interview anlässlich des 100. Todestages von Franz Kafka

03.06.2024

In diesem Jahr feiern wir den 100. Todestag des Schriftstellers Franz Kafka. Sein Werk ist in den letzten Jahren immer populärer geworden, vor allem bei der jüngeren Generation. Bedeutet dies, dass Kafka immer noch relevant ist? Und ist es wichtig, das Bewusstsein für diesen Autor, dessen Werke zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstanden sind, wach zu halten? Wir haben Przemek Schreck, der sich einen großen Teil seines Lebens mit Kafkas Leben und Werk beschäftigt hat, und die außerordentliche Professorin Viera Glosíková von der Pädagogischen Fakultät der Karlsuniversität befragt.

Inwieweit spielt Kafkas tschechische Identität eine Rolle in seinem Leben und seinem literarischen Werk?


Zunächst einmal muss gesagt werden, dass die tschechische Identität nicht auf Franz Kafka zutrifft. Man muss zwischen dem Tschechischen und dem Tschechen unterscheiden. Das Tschechische ist im territorialen Sinne zu verstehen und der Tscheche im nationalen Sinne. Franz Kafka war kein Tscheche im nationalen Sinne, sondern ein Tscheche deutscher Nationalität, der zunächst in Böhmen und nach dem Ersten Weltkrieg in der Tschechoslowakei lebte. Böhmen oder böhmisch sind für Übersetzer komplizierte Begriffe. Kurt Krolop, der führende Experte für die Prager deutsche Literatur, zu der Kafka gehörte, erklärte den Begriff böhmisch einfach und prägnant als "slawisch plus deutsch" und den Begriff tschechisch als "slawisch minus deutsch".

Böhmen und seine Heimatstadt Prag hatten eindeutig einen starken Einfluss auf Kafkas Persönlichkeit, nicht nur die Gegebenheiten des Landes und der Stadt, sondern auch seine alltäglichen Interaktionen mit der tschechischen Bevölkerung. Kafkas Kontakte zu den tschechischen Bürgern waren vielfältig, da er in unterschiedlichen Positionen zu ihnen stand. Seine kosmopolitische Grundhaltung gegenüber anderen war frei von nationalen Vorurteilen und ungerechtfertigten abwertenden Meinungen. Dies lässt sich zum Beispiel sehr schlüssig an seinen Briefen an Milena ablesen. Die Adressatin der Briefe, Milena Jesenská, war eine tschechische Journalistin und die erste Übersetzerin Kafkas ins Tschechische.

Kafkas Wunsch, seine Werke nach seinem Tod zu verbrennen, zeigt seine enormen Selbstzweifel. Spiegelt sich diese Haltung in seinen Werken wider? Warum hat Kafka gewünscht, dass seine Werke nach seinem Tod verbrannt werden?

Die Frage des Nachlasses ist nicht so eindeutig, wie sie oft dargestellt wird. Kafka verfasste zwei kurze Testamente, die jedoch nicht in offizieller Dokumentenform vorlagen. Das erste war undatiert und an seinen besten Freund Max Brod gerichtet, der den Zettel nach Kafkas Tod zwischen anderen Notizen auf seinem Schreibtisch fand. In diesem Brief bittet Kafka seinen Freund, alles aus seinem Nachlass zu verbrennen, darunter Tagebücher, Briefe, Manuskripte, Zeichnungen usw., ohne sie zu lesen. Der zweite Brief trägt das Datum 29. November, aber es ist kein Jahr angegeben. Literaturwissenschaftler gehen davon aus, dass es sich um das Jahr 1922 handeln muss. Hier bittet Kafka seinen Freund, alles wieder zu verbrennen, allerdings mit einer Ausnahme. Es handelt sich um fünf Bücher mit bekannten Erzählungen wie Die Verwandlung, Der Prozess, In der Strafkolonie und die Kurzgeschichte Der hungernde Künstler. Wie bereits angedeutet, stellt keiner der Briefe ein rechtsgültiges Dokument dar, wie es ein Testament sein sollte. Und Kafka war Jurist! Brod erwähnte später, dass er seinem Freund im ersten "Testament" offen gesagt habe, dass er es nicht umsetzen werde. Übrigens hätte Kafka seine Dokumente selbst vernichten können, wenn er gewollt hätte, denn seit seiner Kehlkopftuberkulose-Diagnose war schon viel Zeit vergangen. In der Tat ist die Frage, ob die so genannten Testamente tatsächlich seinen inneren Willen zum Ausdruck brachten, immer noch sehr umstritten und unklar.

Welche Beziehung hatte Kafka zu Prag?

Für Kafka war Prag ein Ort, den er zugleich liebte und hasste. Er liebte die Stadt mit ihren Gebäuden, der Moldau, den Brücken, Glocken und Türmen, den engen Gassen, der Kultur und der Kunst. Er hasste sie vor allem wegen ihrer kleinbürgerlichen Enge.

Inwieweit spielt das Judentum in Kafkas Leben und Werk eine Rolle?

Das Verhältnis Kafkas zum Judentum ist nicht eindeutig. Einerseits gehörte er zu den assimilierten Prager Juden, die ihre Herkunft nicht problematisierten, andererseits gab es Momente in seinem Leben, die sein Interesse am Judentum vertieften, weshalb er wahrscheinlich den Wunsch hatte, Palästina zu besuchen und Hebräisch zu lernen.

Inwieweit haben die Werke Kafkas die deutsch-tschechischen Beziehungen gestärkt?

Kafkas Gesamtwerk stellt ein Meisterwerk der deutschsprachigen Literatur dar, das zugleich mit dem Umfeld und der Atmosphäre seiner Heimat, insbesondere Prag, verbunden ist. Vielleicht kann sein Werk auch in diesem Sinne als eine Brücke zur Völkerverständigung verstanden werden.

Inwieweit ist Kafka noch aktuell? Inwieweit sind die Motive in seinen Werken heute noch relevant?

Franz Kafka könnte kaum aktueller sein. Es ist, als wäre er ein Autor unserer Zeit. Seine Erzählungen und Romane handeln manchmal von einer höheren Macht, von der Ausweglosigkeit des Einzelnen in einem anonymen Apparat. Ihre Helden kämpfen oft verzweifelt und selbstlos gegen Systeme, die bis ins Detail erklärt werden, denen nichts fehlt und deren Existenz und Funktionieren fast wortlos akzeptiert wird. Zugleich bleiben sie undurchdringlich und unheimlich, ja bedrohlich. In Kafkas Roman Der Prozess kämpft Josef K. gegen die seiner Meinung nach unbestreitbare Schuld, gegen die Anschuldigung, obwohl er sich keines Fehlverhaltens bewusst ist. Er wird in seine Privatsphäre verletzt und weiß bis zum Schluss nicht, wessen er beschuldigt wird. Noch deutlicher wird dies in "Das Schloss". Ohne ersichtlichen Grund lehnt sich fast das ganze Dorf gegen den neuen Besucher auf; er ist einfach nicht willkommen, denn Gastfreundschaft ist hier nicht üblich und Fremde werden nicht geduldet. Diese Beweggründe sind uns heute nur allzu vertraut. Viele fühlen sich nicht mehr gehört, niemand versteht sie, und manche haben das Gefühl, dass die Entscheidungen "von oben" und anonym getroffen werden. Leider ist auch der Begriff der Fremdheit in unserer Gesellschaft zunehmend negativ konnotiert. Ein anderer Blickwinkel ist jedoch oft erfrischend, bereichert das Miteinander und stellt eingefahrene Strukturen in Frage.

Dieses Jahr feiern wir den 100. Jahrestag seines Todes. Seine Werke haben jedoch etwas Universelles und Ewiges an sich und könnten kaum aktueller sein. Auch ich werde immer wieder auf Kafka angesprochen. Ob in Schulen, Universitäten, bei kulturellen Veranstaltungen oder im Alltag. Er erfreut sich derzeit einer neuen Popularität. Neue Ausgaben erscheinen in den Regalen der Buchhandlungen, in Podcasts wird über sein Werk berichtet, Dokumentationen und Fernsehserien werden gedreht, und neuerdings lesen ihn sogar Studenten freiwillig. Das ist eine vielversprechende Entwicklung, über die ich mich persönlich sehr freue und die mich in meinem Wunsch bestätigt, Kafka in einem neuen, umfassenderen Licht zu zeigen, im bunten Panorama seiner Zeit.

Wie würden Sie den Begriff "kafkaesk" definieren?

Ich habe meine Schwierigkeiten mit diesem Begriff. Er wird heute fast inflationär und immer wieder falsch verwendet. Sobald er schräg wird, ist er kafkaesk. Aber es ist komplizierter als das. Kafkas Figuren finden sich oft unfreiwillig in grotesken und absurden Situationen wieder. Einerseits müssen sie sich mit Widerständen und Vorurteilen auseinandersetzen, mit Zuständen und Konstellationen, die unerklärlich und bedrohlich sind. Gleichzeitig werden sie von einer Masse an Informationen überrollt. Selbst unbeteiligte Akteure sind involviert und wissen oft mehr, als den Protagonisten lieb ist. Alles scheint irgendwie mit allem zusammenzuhängen. Darüber hinaus entsteht eine Art Traumlogik: Raum und Zeit verlieren ihre Legitimität, Details werden verschwommen gesehen, die Lichtverhältnisse werden störend, ein Labyrinth von Gängen entfaltet sich unerwartet. Der Protagonist findet sich in einer seltsamen Situation wieder, seine Privatsphäre ist zerstört, aber weder er noch der Leser können den Sinn des Ganzen erkennen.

Leider schwappt der Begriff kafkaesk oft auf den Autor selbst über. Das Ergebnis ist ein klischeehaftes Schwarz-Weiß-Bild, das Franz Kafka, der in Wirklichkeit ein sensibler, beliebter und lustiger Mensch war, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Welche Bedeutung hat Kafka in Ihrem Leben? Was reizt Sie an Kafka als Autor?

Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich meiner größten Leidenschaft, der Literatur, und insbesondere Franz Kafka, schon früh nachgehen konnte. Sensibel, eigenwillig, zweifelnd, aber auch entschlossen und feurig, übte der leidenschaftlichste Autor der Welt eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Ich verschlang seine Tagebücher, seine mehr als 1.000 Briefe, Kurzgeschichten, Romane und unzählige Fragmente seiner Werke. In den folgenden Jahren erzählte ich allen und jedem von Kafka, ob auf Wunsch oder nicht. Ich führte seine Geschichten als Solostücke in kleinen Theatern auf, organisierte literarische Spaziergänge durch Prag, lernte Seiten aus seinen Tagebüchern auswendig und hielt Vorträge. Vom ersten Moment an faszinierte mich Franz Kafka als Mensch, mehr noch als sein Werk. Und so ist es auch geblieben: Wenn ich heute in Schulen, in Lehrerseminaren, bei kulturellen Veranstaltungen und auf den Straßen Prags über Kafka spreche, steht Franz Kafka als Mensch an erster Stelle, und erst dann sein Werk.

Der Sinn in meinem Leben ist also leicht zu erklären: Wenn ich heute mit dem größten Reichtum gesegnet wäre, würde ich genau das tun, was ich jetzt tue: spannende, unterhaltsame Geschichten über Franz Kafka erzählen.

Inwieweit haben Kafkas Kindheit, der Leistungsdruck an einer Knabenschule und seine vielen Umzüge sein späteres Leben und Werk beeinflusst?

Franz Kafkas Kindheit war geprägt von zahlreichen Umzügen, ständig wechselnden Kindermädchen und der Abwesenheit der Eltern. Sein Vater Hermann ordnete alles dem wirtschaftlichen Aufstieg seines Kurzwarengeschäfts und dem sozialen Status der Familie unter. Für Fürsorge, Intimität und Kontinuität war in Franz' noch jungem Leben im allgemeinen Lebensverlauf einfach keine Zeit. "Ich wuchs allein unter vielen Menschen auf", erinnerte sich Kafka später. Der Junge entwickelte bald ein sensibles Einfühlungsvermögen, als die Wutausbrüche des impulsiven Vaters immer häufiger wurden. Zudem begleitete ihn sowohl in der Knabenschule als auch im Gymnasium ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit, obwohl er jahrelang ein privilegierter Schüler blieb. Hier war die Pflichterfüllung sehr wichtig und die Schüler standen unter einem enormen Leistungsdruck; sie wurden ständig geprüft und benotet.

Ein Gefühl von Nichtigkeit machte sich breit, gepaart mit Unsicherheit und einem wachsenden Misstrauen in die Beständigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Dies war einer der Gründe für Kafkas defensives, sozial kühles und distanziertes Verhalten. Er wurde allmählich zu einem überempfindlichen und distanzierten Beobachter, der ständig mit Strafen rechnen musste. Viele dieser Aspekte, insbesondere die Einsamkeit, die Macht und die sozial verächtliche Umgebung in seinen Romanfragmenten, prägen einen Großteil seines Werks.

Wie würden Sie Kafkas Beziehung zu seiner Familie, insbesondere zu seinem Vater, charakterisieren?

Die Beziehungen waren unterschiedlich. Während Kafka zu seiner jüngsten Schwester Ottle ein äußerst intensives und liebevolles Verhältnis pflegte, ihr oft vorlas, mit ihr spazieren ging und sie auf ihrem Lebensweg mit Rat und Tat unterstützte, war er den beiden anderen Schwestern Ella und Valli gegenüber fast gleichgültig. Es gelang ihm nicht, eine echte Beziehung zu ihnen aufzubauen. Kafkas Mutter Julie übernahm bei Familienstreitigkeiten stets die Rolle der Vermittlerin. Sie war eine Art Puffer zwischen ihm und seinem temperamentvollen Vater. Ihr Verhältnis war herzlich, aber Kafka war fest davon überzeugt, dass sie weder ihn noch seinen Beruf als Schriftsteller verstand. Das Verhältnis zu seinem Vater war geprägt von enttäuschten Erwartungen, Vorwürfen und manchmal lautstarken Auseinandersetzungen. In der streng patriarchalischen Welt der damaligen Zeit war Kafkas Weg, zumindest in den Augen seines Vaters, fest vorgezeichnet: Eines Tages würde er das Geschäft übernehmen. Dass Franz jeglicher Geschäftssinn fremd war, ihm aber die Schriftstellerei heilig war, dass er sich, wie er sagte, "aus der Literatur heraus komponierte", führte immer wieder zu Auseinandersetzungen. Hermann warf ihm auch mangelnde Dankbarkeit, Trotz und Entschlossenheit vor. "Übersexualisiert, ein Mißgeburt, nicht normal!" war oft am Küchentisch zu hören. Franz hat das alles lange Zeit wortlos hingenommen, und erst in den letzten Jahren hat er sich zunehmend von seinem Vater emanzipiert. Es ist nicht verwunderlich, dass Kafka Dostojewski, Grillparzer, Flaubert und Kleist zu seinen engsten Blutsverwandten zählte.

Inwieweit haben Kafkas Werke die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik beeinflusst?

Gemessen an ihrem vereinigenden Potenzial ist das leider noch zu wenig. Es hängt sicher mit Kafkas Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit zusammen: erst österreichischer, dann tschechoslowakischer, aber deutschsprachiger Jude. Positiv betrachtet, könnte man sagen: ein Europäer! Und darum geht es ja auch. Wir sind ja in erster Linie Menschen, und wir werden unverschuldet in die Grenzen dieses oder jenes Landes hineingeboren. Deshalb sollten wir die bereichernde und integrierende Kraft, die von der Literatur ausgeht, nutzen, um uns noch näher zusammenzubringen. Ich fühle mich in Prag immer sehr willkommen, das ist ein wunderbares Gefühl. Und wenn ich in Berlin auf den Straßen Tschechisch höre, zaubert es mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich werde den 140. Geburtstag von Franz Kafka nutzen und am 3. Juli Tschechen und Deutsche gleichermaßen in das "Haus zur Minute" im ehemaligen Wohnhaus von Kafkas Familie am Prager Altstädter Ring einladen, um über diesen außergewöhnlichen, höflichen, immer freundlichen und lächelnden Herrn zu sprechen und nicht müde zu werden, die Freundschaft zwischen beiden Ländern zu vertiefen und zu pflegen.