Zweite Debatte Online

19.11.2020

Thema des Abends: "LEBEN IM TOTALITARISMUS UND/ODER DER DEMOKRATIE"

Anlässlich des Nationalfeiertags am 17. November haben wir unsere zweite Online-Debatte geführt, diesmal zu einem sehr aktuellen Thema: "Leben im Totalitarismus und/oder der Demokratie". Milada Vlachová, eine erfahrene Dolmetscherin, Übersetzerin und Sprachanimatorin (CZ-DE), übernahm diesmal die Moderation. Vertreter zweier verschiedener Generationen, Petr Pazdera Payne (1960) und David Vereš (1979), erzählten von ihren persönlichen Erfahrungen aus der Zeit der Unfreiheit.

Herr Pazdera Payne durchlief verschiedene Jobs (er arbeitete als Sanitäter, Forstarbeiter, Erzieher am Jedličkův ústav, Nachtwächter, Heizungsmonteur). In den 1980er Jahren studierte er evangelische Theologie und arbeitete als Priester in Kaaden und Komotau (1989-1992). Er ist Unterzeichner der Charta 77. In den späten 1980er Jahren war er Mitbegründer des Unternehmens für ein fröhlicheres Gegenwart (UfG).

1989 arbeitete er mit Petr Uhl (ua. Preisträger des Europäischen Karlspreis der SdL, 2008) bei der Osteuropa-Informationsagentur zusammen. Er war auch ein direkter Teilnehmer an den Ereignissen des 17. November 1989 in Prag an der Nationalstraße (Národní třída).

Nach dem Regimewechsel arbeitete er als Lehrer an der Tschechischen Technischen Universität Prag (ČVUT), oder unter anderem auch als Beamter im Innenministerium. Seit den 1990er Jahren schreibt er Prosa, Poesie, dramatische Texte (sogenannte Dramolets). Er ist auch Autor einer Predigt. Darüber hinaus konzentriert er sich auch auf Grafiken. P. Pazdera Payne reflektiert auch seine persönlichen Erfahrungen mit der alltäglichen Realität im Zeitalter des Totalitarismus. Während der Debatte zitierte er zum Beispiel aus seinem Buch Kol dějů (2011) und einer Kurzgeschichte.

David Vereš emigrierte (noch) im Januar 1989 mit seinen Eltern und zwei älteren Schwestern nach Deutschland. Später hat er dorst sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Weiden abgeschlossen. Er arbeitete als Dolmetscher, Projektleiter im tschechisch-deutschen Projekt "Wir sind Europa" oder als Prozessmanager und Leiter der Einkaufsabteilung. Seit 2014 arbeitet er fürs Zentrum Bavaria Bohemia in Schönsee.

Vor der Debatte selbst haben wir untersucht, was sich die jungen Menschen und Zuhörer von heute unter "Totalitarismus" vorstellen: Gesetzlosigkeit, die Unfähigkeit, frei zu wählen, hoffnungsloses Grau, die Unfähigkeit, Politik (öffentlich) zu kommentieren, zu reisen, eine Meinung frei zu äußern, Schikane vom Staat zu erleiden.

Anschließend beantworteten unsere Gäste auch diese Frage.

Wir dachten auch darüber nach, was der Impuls für die Menschen gewesen sein könnte, ihre Heimat zu verlassen: Unterdrückung seitens des Staates, die Unfähigkeit, im Feld der Wahl zu studieren oder zu arbeiten, Drohungen, Einschüchterung, (keine) Aussichten auf eine bessere Zukunft, ... "Zu Hause sagten sie etwas ganz anderes als in der Öffentlichkeit - wir hatten so ein Doppelleben," sagte dazu D. Vereš und P. Pazdera Payne ergänzte: "Es ging darum, Leute zu brechen, "etwas" zu unterschreiben (auch wenn sie nicht gelesen haben, was sie unterschrieben) oder Gewerkschaften beizutreten. Schon lange Haare waren ein Grund für Verfolgung."

Damals spielten Dissidenten eine besondere Rolle. "Bei der Geburt der Charta 77 gab es sehr gebildete Menschen. Das war es, wovor das Regime Angst hatte. Wir waren die 'inneren Feinde' des Staates, und solche Gegner mussten durch 'Einflussmaßnahmen' zerstört werden... Die Teilnehmer der sg. Wohnseminaren setzten auf Inhaftierungen von uns... Das einzige Mal, dass ich Angst hatte, war, als sie begannen, mir die Psychiatrie anzudrohen..."

"Die Kesselräume waren voll von ehemaligen Vikaren" (P. Pazdera Payne, 2018)

Freiheit könnte auch durch Aktivismus erkämpft werden, z.B. innerhalb des Unternehmens für ein fröhlicheres Geschenk (auch am 1. Mai 1989). Seine Vertreter organisierten zum Beispiel einen Lauf durch die Straßen politischer Gefangener für die Freilassung politischer Gefangener, an dem damals Dutzende Menschen teilnahmen, oder schrieben Briefe (auch auf Ungarisch), z. B. indem sie Teilzeithilfe beim Schneiden von Stacheldraht in der Nähe der ungarischen Nachbarn anboten. In der negativen Atmosphäre, die in der Gesellschaft herrschte, grau und hoffnungslos, brachten die Aktivitäten der UfG Erfrischung und verbreiteten durch ihre unformelle Form vor allem eine gute Stimmung.

Darüber hinaus organisierte die UfG beispielsweise eine Prozession, gegen die die Einheit der fröhlichen (Staatlichen) Sicherheit eingriff - mit Wassermelonenhelmen und Gurkenschlagstöcken. "Wichtig war, unsere Veranstaltungen zu vermitteln, sie in die Welt bzw. in die Medien hinaus zu bringen, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was hier vor sich geht." Die Akteure unerwünschter Aktivitäten schafften es jedoch bald ins StB-Register...

Neben der UfG oder der Unabhängigen Friedensvereinigung, die die Gesellschaft entmilitarisieren wollte, organisierte ein alternativer Militärdienst im August 1988 Demonstrationen und ein Happening vor der iranischen Botschaft zur Verteidigung von Salman Rushdie, das ebenfalls öffentlich stattfand. "Es ging darum, Solidarität zu zeigen - zur Unterstützung derer, die eingesperrt oder verfolgt werden", sagt Peter Pazdera Payne, der sich auch aktiv daran beteiligt hat.

Es ist nicht wahr, dass "jeder schon 1989 wusste, dass es platzen würde!"

Aus den Erfahrungen der Familie Vereš aus Westböhmen, die im Januar 1989 auswanderte, geht hervor, dass damals die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Sicht war. Unter den gleichen Umständen gelang es ihnen, nach Bayern zu gelangen, wo sie eine Zeitlang in einer Flüchtlingsunterkunft festsaßen. "Damals haben uns nicht alle Menschen, ebenso wie die heutigen Migranten, mit offenen Armen begrüßt. In meiner Schule waren die Kinder sehr taff - ich würde sagen, sie haben diese Haltung von ihren Eltern übernommen." Nach einer Weile bauten sie jedoch eine neue Existenz auf und planten unmittelbar nach den Ereignissen Ende 1989 keine schnelle Rückkehr in die Tschechoslowakei. "Niemand war sich damals sicher, ob der Regimewechseln dauerhaft war. Wir waren uns nicht sicher, ob es nicht wieder einen Regierungswechsel geben würde.
Heute würde ich sagen, dass ich mich als ein Europäier fühle."

Schließlich haben wir auch aktuelle Themen angesprochen: Kann man sich als ehemaliger Migrant mit den Menschen, die heute nach Deutschland kommen, identifizieren? Warum sollten wir uns heute sozial engagieren, wenn wir schon "Demokratie haben"? Und warum für das Wohl der Menschen, die jetzt für ihre Demokratie und die Achtung der Menschenrechte kämpfen (N'hor Karabach, Hongkong, Weißrussland)? Diese Themen konnten von jedem Teilnehmer reflektiert worden.

Die Diskussion bot somit allen Akteuren eine angenehme Gelegenheit, zurückzublicken oder darüber nachzudenken, wie eine Person als Individuum durch kleine Handlungen dazu beitragen kann, unsere Gesellschaft demokratischer zu machen.

Wir danken der Hanns-Seidel-Stiftung für ihre finanzielle Unterstützung und den Gästen für ihre Teilnahme.

Wir freuen uns auf das nächste Treffen (bereits 25.11.2020)!